Mittwoch, 4. April 2012

Wegzehrung.

Sie öffnet die Augen. Der Zug hält. Menschen drängen sich auf dem Bahnsteig, jeder hat Angst, keinen Sitzplatz zu erhalten. Rucksackbepackt und wochenenderwartend strömen sie nun in die Waggons und lassen sich alleine, zu zweit, zu dritt in den endlosen Sitzreihen nieder, greifen nach Buch oder Zeitung oder Smartphone, falten die Hände in ihrem Schoß oder lassen einfach ihre Blicke schweifen. Ob diese Menschen beim Hinausschauen auch an das Küssen denken?

Küssen ist schon eine eigentümlich Sache. Man küsst so viel, so häufig in seinem Leben. Menschen, die einem nahe stehen, einfach mal so, weil man sie gern hat. Andere, weil sie Geburtstag haben, oder das Examen bestanden oder auch zum Trost. Man küsst Männer und Frauen, man küsst Kinder, ja, es soll sogar Menschen geben, die Hunde, Katzen oder Flughafenböden küssen. 

Ein tiefer Blick, der alleine schon ausreicht, um den kaffeebeladenen Magen zum Tanzen zu bringen, langsames Augenschließen und dann vorsichtiges Berühren der gegnerischen Lippen. Und dann, langsames Spiel, gemeinsames Ertasten und warmkaltes Schaudern auf der Haut. Und wer hat eigentlich jemals behauptet, in der Kürze liegt die Würze? 

Sie liebt es zu küssen. Selten sind sich zwei Menschen näher. Wenig ist näher, wenig ist intimer, vielleicht ist Küssen sogar der vertrauensvollere Teil der Sexualität, weil es das gesprochene Wort ersetzt.

Unzählige Male stellt sie den Becher wieder auf das kleine Tischchen vor sich, unzählige Male greift sie nach dem Roman, der vor ihr liegt. Die Geschichte über Selbstmord, über Liebe und Leben. Reiselektüre. Nach wenigen Seiten, nach wiederholtem Neulesen, beschließt sie, vielleicht zu überstürzt, dass dieses Buch ihr nicht gefällt. Wer will in solchen Augenblicken schon von toten Frauen nach Hochzeitsreisen lesen, wenn er an das Küssen denken kann.

Wer weiß. Vielleicht komme ich ja heute noch an, denkt sie.  Und lächelt. 

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