Irgendwann kam dann die Zeit der schönen Indifferenz, die
Zeit der großen Toleranz. Wir lachten, wenn jemand unsere
Anti-Faschismus-Demonstrationen "Licherketten" nannte, wir lächelten
wohlwollend über Joschka Fischer, der plötzlich handgenähte Schuhe statt
Turntreter trug und seinen Wohlstandsbauch grinsend vor sich her schob. Das
Studentenleben gab uns plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas das Leben ja auch
mit uns machen würde. Wir würden Anwälte werden, Ärzte, Lehrer, Architekten.
Wir ahnten, wir werden irgendwann nicht mehr auf Schienen liegen, weil wir uns
nicht unsere Anzüge oder Kleider dreckig machen wollen würden (na ja, außer
die, die vielleicht Lehrer werden wollten). Wir bezogen nicht mehr Stellung,
weil wir mutmaßten, die Menschen, die heute um uns herum sind, begegnen uns
vielleicht wieder und würden dann auf unserer Hochzeit vielleicht Fotos
hervorkramen können, auf denen wir angekettet an einem Schlot mit Che Guevara
T-Shirt nicht die beste Figur machen würden, während unser Schwiegervater (hier:
irgendein Industriemagnat, der seinen Sohn immer vor uns gewarnt hat) seiner
akkurat frisierten Industriemagnatengattin ins Ohr räusperte.
Wir durchlebten die vielleicht besten Zeiten unseres Lebens,
weil wir indifferent sein durften. Natürlich, Plastiktüten pflasterten immer
noch den Weg zur Hölle und wir verhüteten mit Kondomen und kauften unsere
Kleidung auf dem Second Hand (vielleicht, weil wir uns mehr auch einfach nicht
leisten konnten). Aber eigentlich war es uns egal.
Als ich noch im Studium Mama wurde, konnte ich mir diese
Indifferenz plötzlich nicht mehr leisten. Ich brauchte Erfahrung. Leider kann
man sich Erfahrung nicht einfach als Wissen aneignen. Auch wenn ich das damals
noch dachte. Ich las also Bücher um Bücher, tausende von Seiten, von Autoren,
die impfen toll fanden, von Ärzten, die impfen verfluchten,
Langzeitstillbefürworter (Krankenschwestern), Stillgegner (Herr Hipp und Co),
Seitenlage (Hebammen), Bauchlage (Omas und Uromas). Ich lies mich so überhäufen
mit Meinungen anderer, dass ich plötzlich ganz alleine da stand und merkte, es
gibt hier kein Schwarz oder Weiss. Es gibt auch keine Gleichgültigkeit. Ich
musste plötzlich eine eigene sezierbare, vertretbare Meinung haben.
Der erste,
festangestellte Job. Ich weiß noch, als wir die Anfrage eines kerntechnischen
Instituts bekamen, für sie einen Auftrag zu erledigen. Ich sollte die
Projektleitung übernehmen. Ich habe mich geweigert. Meine Argumentationskette
ging in etwa: "Atomkraft ist pfui, deshalb mache ich das nicht." (Wir
erinnern uns: Atomkraft, nein danke.). Meine Chefs schauten mich ziemlich
verwirrt an. Ich musste den Job nicht machen, sie machten mir aber ziemlich
unmissverständlich klar, dass sie mich für ein klein wenig durchgeknallt
hielten und dies die erste und letzte Eskapade sei. Ich meinerseits wusste,
dass ich mich ziemlich unprofessionell verhalten hatte (finde aber immer noch,
dass ich meine Sache ziemlich gut gemacht habe). Aber mir wurde klar, ich
musste eine argumentativ vertretbare Meinung zu Atomstrom bekommen. Also las
ich mich ein. Und das war ja nur eines der Sandkörner im Meer der Themen, über
die ich nun eine Meinung haben wollte. Terrorismus, Molekularküche, Manolos, Walser,
Reiterferien für Kinder. Dieser Berg in meinem Kopf machte es mir nicht immer leichter,
ist aber oft ein guter Rettungsanker.
Und heute? Ich diskutiere für mein Leben gerne. Ich mag es, fundiertes Wissen zu meiner Meinung zu haben, genieße es neue Argumente durch Mitredner zu erhalten und manchmal, ganz manchmal liebe ich es, wie damals einfach nur intolerant zu sein.
Und heute? Ich diskutiere für mein Leben gerne. Ich mag es, fundiertes Wissen zu meiner Meinung zu haben, genieße es neue Argumente durch Mitredner zu erhalten und manchmal, ganz manchmal liebe ich es, wie damals einfach nur intolerant zu sein.
Und dann sage ich "Eure
Meinung ist pfui, deshalb habe ich recht."