Donnerstag, 5. April 2012

Flackern.

Die Nacht bricht herein. Wie so oft sitzt sie da, alleine, ein Glas Wein, die leisen Klänge von Eric Clapton und die Lichter die Stadt, die nicht einmal bis in ihre Wohnung hervordringen. Ruhig ist es geworden in ihrem Leben. Wer kann sie schon aushalten, sie, die sie so weit außen vor ist, dass sogar sie selbst nicht mal mehr mit ihrem Spiegelbild spricht. Verstummt ist sie. Starr vor Angst raus zu gehen und das Lachen der anderen zu spüren. Sie schaut hinaus. Leise Geräusche dringen zu Ihrem Fenster hoch. Das Vorbeirauschen eines Busses, ein entferntes Gespräch. Irgendwo scheppert etwas  klirrend in einen Mülleimer. Sie leert ihr Glas. Sie füllt es erneut auf, setzt an, trinkt. Schon lange schmeckt ihr nichts mehr. Gegessen hat sie seit Tagen nichts, Alles, was sie zu sich nimmt, brennt tief in ihr. Sie steht auf. Das Glas immer noch in ihrer Hand. Die Lippen rot von den billigen Trauben aus der Schraubverschlussflasche. Sie wollte weit kommen. Weit hinaus in die Welt. Einen Beruf. Ein Kind. Oder zwei. Einen Mann an ihrer Seite. Kinderträume. Wer heiratet wohl zuerst, hatten sie damals gespielt. Mutter. Vater. Kind. Ich seh etwas, was Du nicht siehst. Sie sah nie etwas. Nichts blieb. Weil sie es selbst nicht halten konnte. Sie öffnet das Fenster und atmet tief ein. Das Licht der Stadt. Es flackert. Sie steigt hoch, auf das Fensterbrett, das nicht einmal durch Pflanzen verstellt ist. Sie holt Luft. Einmal, zweimal. Das Glas fällt ihr aus der Hand. Sie schliesst die Augen. Ein tiefer Atemzug. Die Nacht beginnt.

Mittwoch, 4. April 2012

Wegzehrung.

Sie öffnet die Augen. Der Zug hält. Menschen drängen sich auf dem Bahnsteig, jeder hat Angst, keinen Sitzplatz zu erhalten. Rucksackbepackt und wochenenderwartend strömen sie nun in die Waggons und lassen sich alleine, zu zweit, zu dritt in den endlosen Sitzreihen nieder, greifen nach Buch oder Zeitung oder Smartphone, falten die Hände in ihrem Schoß oder lassen einfach ihre Blicke schweifen. Ob diese Menschen beim Hinausschauen auch an das Küssen denken?

Küssen ist schon eine eigentümlich Sache. Man küsst so viel, so häufig in seinem Leben. Menschen, die einem nahe stehen, einfach mal so, weil man sie gern hat. Andere, weil sie Geburtstag haben, oder das Examen bestanden oder auch zum Trost. Man küsst Männer und Frauen, man küsst Kinder, ja, es soll sogar Menschen geben, die Hunde, Katzen oder Flughafenböden küssen. 

Ein tiefer Blick, der alleine schon ausreicht, um den kaffeebeladenen Magen zum Tanzen zu bringen, langsames Augenschließen und dann vorsichtiges Berühren der gegnerischen Lippen. Und dann, langsames Spiel, gemeinsames Ertasten und warmkaltes Schaudern auf der Haut. Und wer hat eigentlich jemals behauptet, in der Kürze liegt die Würze? 

Sie liebt es zu küssen. Selten sind sich zwei Menschen näher. Wenig ist näher, wenig ist intimer, vielleicht ist Küssen sogar der vertrauensvollere Teil der Sexualität, weil es das gesprochene Wort ersetzt.

Unzählige Male stellt sie den Becher wieder auf das kleine Tischchen vor sich, unzählige Male greift sie nach dem Roman, der vor ihr liegt. Die Geschichte über Selbstmord, über Liebe und Leben. Reiselektüre. Nach wenigen Seiten, nach wiederholtem Neulesen, beschließt sie, vielleicht zu überstürzt, dass dieses Buch ihr nicht gefällt. Wer will in solchen Augenblicken schon von toten Frauen nach Hochzeitsreisen lesen, wenn er an das Küssen denken kann.

Wer weiß. Vielleicht komme ich ja heute noch an, denkt sie.  Und lächelt.